Kurzgeschichten
In der Kürze liegt die Würze – Kurzgeschichten mit weniger als 1.000 Wörtern und mit einer Lesezeit unter 5 Minuten. Praktisch zur Erheiterung für zwischendurch!
Zwei Schatten
Ein
Kind sitzt alleine auf dem Bett, daneben ein Erwachsener. Es ist nachts und der
Mondschein, der ungewollt spitz durch die ausgefransten Vorhänge eindringt,
tunkt ihre Gesichter in farblose Graustufen, die nach nassem Pudel müffeln.
Niemand hat die Anwesenheit geprüft, niemand hat sie eingefordert. Ein Kind,
ein Erwachsener, zwei Schatten, der Mond.
Alles hier ist alt und verstaubt, auf eine verquere Weise abgelaufen, und doch vollständig erhalten. Ich kann alles sehen. Es ist da trotz der Dunkelheit. Die gelb eingefärbten Tapeten mit dem altmodischen Blumenmuster, auf der alle paar Zentimeter ein dunkler Blutfleck einer erschlagenen Gelse prangt. Hie und da kleben sogar noch ein paar Beinchen mit dran. Und dann die braune Kastanienkommode, die einfach so mitten im Raum steht und auf der dieser prachtvolle Porzellanhirsch neben einer Fotogalerie seinen Platz gefunden hat.
Die Fotos in den Goldrahmen sind verblasst, als hätten die Menschen, die einst hier lebten, ein Schattendasein geführt – langweilig und unbedeutend. Längst gewichenes Familienglück – zu Hauff auf zehn mal vier Zentimetern Fotopapier; gestellt, exklusiv für das Dasein auf der Kommode. Man hat sich sichtlich Mühe gegeben, glücklich zu wirken, aber ich meine, nur leere Menschen an einem trostlosen Ort zu sehen – irgendein Ort zu irgendeiner Zeit. Es hätte jede Zeit und jeder Ort und vermutlich auch jede Person sein können. Immerhin fängt ein Foto nur das Äußere ein und danach bleibt nichts als reine Spekulation. Kein Spielraum für die Wahrheit.
Ich betrachte die Fotos, viel zu lange, bis mir auffällt, dass nichts daran anders ist. Normale Menschen auf normalen Fotos, wie sie in unzähligen Alben kleben, um das Gewesene festzuhalten und ins Ungewisse mitzunehmen. Was soll verkehrt daran sein? Was würde ein Außenstehender überhaupt von einem Schnappschuss aus der Vergangenheit verstehen? Von Bruchteilen einer Sekunde, die so viel und wiederum gar nichts aussagen?
Sobald die Fotos vollständig verblasst sind, sind diese Menschen auf ewig tot, denke ich. Wer soll sich dann noch an sie erinnern? Und daran, dass sie überhaupt gewesen sind?
Ein Kind und ein Erwachsener sitzen auf dem Bett. Ihre Silhouetten zeichnen sich krumm auf der dahinterliegenden Wand ab - Gekritzel auf der Blumentapete.
Der Anblick ist mir unangenehm. Es ist immer dasselbe. Das Kind, der Erwachsene, irgendein Ort zu irgendeiner Zeit.
Ich erinnere mich – ungern.
Wo bin ich?
An irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit.
Wer bin ich?
Das Kind. Der Erwachsene. Irgendwer, weil es keine Rolle spielt.
Ich denke über sie nach.
Sie schweigen wie selbstverständlich und ich fühle, dass ihr Schicksal ineinander verwebt ist.
Ob sie es wissen? Oder spüren?
Nein, ich weigere mich. Ich will sie gar nicht erst erkennen müssen – es reicht mir zu wissen, dass sie zusammen sind, dass sie zusammengehören. Das Kind und der Erwachsene. Das ist mehr, als ich erwartet hatte.
Ich höre sie durch die Gänge trampeln, aufgeregt lachen, und dann ist es still.
Der Moment ist vorbei. Verpasst.
Die Kamera ist kaputt.
Alles fällt in sich zusammen.
Es wird sie nie gegeben haben.
Abgedruckt im DUM 103/2022, © Astrid Holzmann-Koppeter
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